Seit zwei Jahrzehnten für Überraschungen gut
entstandene Schweizer Strassenmagazin «Surprise». Für die sozialkritischen Inhalte zeichnet ein professionelles Redaktionsteam verantwortlich. Das Gesicht von «Surprise» in der Öffentlichkeit sind aber seine Strassenverkäuferinnen und -verkäufer, allesamt Menschen ohne oder mit beschränktem Zugang zum regulären Arbeitsmarkt. Dieses Frühjahr zeichnete die Burgergemeinde «Surprise» mit dem burgerlichen Sozialpreis aus. Wir haben einen Blick hinter die Kulissen geworfen und die Menschen, die mit dem Verkauf von «Surprise» zu tun haben, getroffen.
TEXT: MARTIN GRASSL UND MERET RADI; BILD: ZVG
Man sieht sie bei jedem Wetter auf der Strasse, in Unterführungen oder vor Geschäftseingängen stehen. Sie verleihen «Surprise» in der Öffentlichkeit sein unverwechselbares, farbiges Gesicht. Die rund 400 Verkäuferinnen und Verkäufer, alleine 100 davon im Kanton Bern, bilden sein Rückgrat, setzen sie doch das Magazin mit einer Auflage von rund 22 000 Exemplaren ab. Die alle zwei Wochen erscheinende Zeitung kann in der Deutschschweiz in rund 100 Gemeinden auf der Strasse gekauft werden. Die Verkaufenden selber haben oft bewegte, schwere Lebensgeschichten hinter sich und gelten als armutsbetroffen. In ihren Reihen befinden sich zahlreiche Frauen, aber auch Geflüchtete aus fremden Ländern. Fast allen ist der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt erschwert. Der Verkauf des Strassenmagazins verhilft ihnen somit zu einem Einkommen. Von den sechs Franken, die eine Nummer kostet, dürfen sie die Hälfte behalten. Ein kleiner Teil davon geht an die Sozialversicherung. Der Verkauf eröffnet ihnen neue Perspektiven und ermöglicht ihnen soziale Teilhabe. Der Verein «Surprise» betreibt zugunsten seiner Verkaufenden überdies weitere gemeinschaftsstiftende Projekte wie Strassenfussball oder Chorsingen. Eine besondere Form des «Empowerments» stellen in Basel, Bern und Zürich die Stadtrundgänge dar. Hier erzählen «Surprise»-Stadtführer, allesamt Experten der Strasse, aus ihrem Alltag und zeigen den Besucherinnen und Besuchern Orte, denen man gemeinhin keine Beachtung schenkt, beispielsweise öffentliche Wohnzimmer oder private Notschlafplätze. Vorurteile abbauen ist Sinn und Zweck dieser besonderen Stadtführungen.
Ganz neu auf dem Programm von «Surprise» sind seit letzten Sommer Verkaufsschulungen, die allen Verkaufenden kostenlos angeboten werden. Die Verkaufenden von «Surprise» sind während ihrer Tätigkeit sehr exponiert. Gerade Frauen oder diejenigen mit Migrationshintergrund sind oftmals auch Anfeindungen aus der Bevölkerung ausgesetzt. Deshalb hat «Surprise»-Sozialarbeiterin Anette Metzner eine Schulung konzipiert, welche verbale und non-verbale Kommunikation oder den Umgang mit Extremsituationen zum Inhalt hat. Hier kam der Sozialpreis der Burgergemeinde 2018 gerade recht, um die damit verbundenen Kosten zu decken. Die Verkaufsschulungen starteten in Basel und fanden vor den Sommerferien das erste Mal in Bern statt. Gleich sieben Verkäufer nahmen an dieser Auftakt-Schulung in der «Surprise»-Regionalstelle Bern teil. Die stolzen Absolventen wurden anschliessend mit einem Zertifikat belohnt. Wir haben nachgefragt und uns mit den Verkäufern Negussie Weldai und Awet Iyasu sowie den «Surprise»-Sozialarbeiterinnen Anette Metzner und Nadja Oggier im Berner Büro des Magazins im Breitsch getroffen.
ANETTE METZNER: Bei der Schulung geht es primär darum, das Selbstvertrauen der Verkaufenden zu stärken. Bei ihrer Arbeit auf der Strasse erleben sie oft Konflikte. Im Kurs reden wir über schwierige Situationen und erarbeiten im gemeinsamen Gespräch Lösungsansätze.
Was haben Sie in der Verkaufsschulung gelernt?
NEGUSSIE WELDAI: Ich habe gelernt, dass man sich nicht stören lassen soll. Denn 99,9% der Erfahrungen, die ich beim Verkaufen von «Surprise» mache, sind gut. Wenn jemand mich aber anpöbelt, reagiere ich nicht, sondern bleibe ruhig.
AWET IYASU: Der Kurs hat mir viel geholfen. Zum Beispiel habe ich gelernt, dass es besser ist, wenn wir das Magazin auf Augenhöhe halten (lacht).
ihre Erfahrungen an andere Verkaufende weitergeben.
mit meiner Einschätzung.
(beide nicken stolz). Doch ich will nicht allen vom Kurs erzählen, die Tipps sind einfach zu gut (lacht verschmitzt).
in den Händen hatte, bin ich am Abend zu müde, es noch zu lesen.
NO: Gute Deutschkenntnisse sind keine Voraussetzung, damit jemand unser Magazin verkaufen kann. Wir müssen uns jedoch verständigen können. Wenn die Verkaufenden die Zeitschriften abholen, gehen wir manchmal die Themen durch. Aber oft fehlt dazu die Zeit, da die Verkäuferinnen und Verkäufer möglichst schnell zu ihren Verkaufsorten zurückgehen möchten.
AM: Es geht neben der Stärkung des Selbstbewusstseins auch darum, die Identifikation mit «Surprise» zu fördern und den Verkäufern das vielfältige Angebot von «Surprise» zu unterbreiten. Die Organisation bietet auch Freizeitangebote oder Stadtrundgänge an. Der gesteigerte Absatz ist ein positiver Nebeneffekt.
Surprise wirkt
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Mit Erwerbsmöglichkeiten, Angeboten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und niederschwelliger Begleitung eröffnet Surprise ihnen Perspektiven und konkrete Handlungsfelder. Diese Hilfe zur Selbsthilfe aktiviert die Fähigkeiten der Menschen und ist dadurch nachhaltig. Surprise sensibilisiert die Öffentlichkeit für soziale Gerechtigkeit, wirbt für gesellschaftliche Vielfältigkeit und stellt fachliche Expertise zur Verfügung.