Viele, viele bunte Geschlechter
TEXT: SIMON JÄGGI (Co-Kurator «Queer – Vielfalt ist unsere Natur»); BILDER: NELLY RODRIGUEZ
Louis ist vierfacher Vater. Mit 70 unterzieht er sich einer Leistenoperation. Der Chirurg findet in seinem Bauch überraschenderweise eine Gebärmutter. Louis ist intergeschlechtlich. Ihm fehlt ein Hormon, das die Ausbildung der Gebärmutter verhindert.
Intergeschlechtlichkeit ist einer von vielzähligen Aspekten des Themas Geschlechtervielfalt. Das Phänomen ist noch eher unbekannt und das Wissen dazu in der Öffentlichkeit weitgehend gering, doch ist Intergeschlechtlichkeit gar nicht so selten. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass bis zu 1,7 Prozent aller Menschen intergeschlechtlich sind. Das würde bedeuten, dass es hierzulande soviele intergeschlechtliche Menschen gibt, wie in der Stadt Bern wohnen. In vielen Fällen aber bleibt Intergeschlechtlichkeit unentdeckt. Gerade im Bereich der Zellen gibt es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu Intergeschlechtlichkeit, die verblüffen: Bei gewissen Menschen besteht ein Teil der Körperzellen aus XX-, der andere aus XY-Zellen. Die Häufigkeit dieses Phänomens, das die Medizin «Chimärismus» nennt, ist unbekannt, weil es fast nie bemerkt wird. Entstehen kann es etwa dadurch, dass Stammzellen von der Mutter auf den Embryo übergehen oder umgekehrt. Diese fremden Stammzellen können sich an der Entwicklung verschiedenster Organe beteiligen.
Das biologische Geschlecht ist nicht eindeutig
Das ist zwar nur ein Beispiel, aber es zeigt eines deutlich: Das biologische Geschlecht ist nicht die eindeutige Sache, für die wir es lange gehalten haben. Aus wissenschaftlicher Sicht müsste man bei männlich und weiblich eher von zwei Polen sprechen, zwischen denen alle unsere Körper angesiedelt sind. Und das biologische Geschlecht ist nicht allein eine Frage von Penis oder Vagina. Es lässt sich in verschiedene Aspekte aufteilen: Chromosomen, Zellen, Hormone, innere Geschlechtsorgane, Genitalien, Gehirn und kognitive und emotionale Aspekte. Unser Körper-Geschlecht ist ein höchst komplexes Netzwerk. Die Annahme, dass es eindeutig sei, lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht nicht stützen.
Das Naturhistorische Museum zeigt in seiner neuen Ausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» auf, wie vielschichtig das Thema Geschlecht ist – auch aus kultureller und gesellschaftlicher Sicht. Sie schlägt die Brücke zwischen Biologie und Kultur. Der Mensch ist seiner Natur nach ein Kulturwesen. Wir bestehen nicht nur aus Körper, Trieben oder Instinkten. Was uns die Natur an biologischen Grundlagen mitgegeben hat, haben wir im Laufe der Menschheitsgeschichte genutzt, und uns weiterentwickelt. Ein gutes Beispiel dafür ist das Essen, um das sich eine umfangreiche und lustvolle Kultur aufgebaut hat. Ist es wider die Natur, mit Gabel und Messer zu essen? Wahrscheinlich würden dies die wenigsten bejahen.
Ist Geschlechtsidentität eine Einbildung?
Ähnlich steht es mit dem Geschlecht und der Sexualität. Geschlecht ist viel mehr als unser Körper. Gynäkologie-Professorin Anette Kuhn am Berner Inselspital hat schon viele Trans-Menschen begleitet und dem Autor gegenüber den eindrücklichen Satz geäussert: «Das wichtigste Geschlechtsteil ist der Kopf.» Damit meint sie die Geschlechtsidentität. Da diese eine Empfindung darstellt und nicht gemessen werden kann, werden Geschlechtsidentitäten hin und wieder nicht als «harte Fakten» betrachtet. Dies kann gegenüber Trans-Personen oder anderen queeren Menschen zum Vorwurf führen, ihre Identität sei nur Einbildung.
Die neue Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» versucht nicht, zu umstrittenen Fragen Position zu beziehen, sondern die gesellschaftliche Realität abzubilden. Etwa mithilfe einer Videostation, die sieben Lebensgeschichten von Menschen vermittelt, die alle von der Norm abweichen, mit etlichen Hindernissen im Leben zu kämpfen und doch ihr Glück als queere Personen gefunden haben.
Die Ausstellung ist als Expedition aufgebaut, in der sich die Besuchenden auf ihre eigene Entdeckungsreise begeben, sie sieht keinen chronologischen Weg vor. Mit einem Expeditionsheft ausgerüstet, machen sich die Besuchenden auf eine Forschungsreise in die bunte Welt der Vielfalt von Geschlecht und Sexualität – nicht nur mit dem Ziel, ihr Wissen zu erweitern, sondern auch, um etwas über sich selbst zu lernen.