Mit Originalmanuskripten zurück in Berns musikalische Vergangenheit
TEXT: CHRISTOPH RIEDO UND DANIELA TSCHANZ; BILDER: ZVG
Vor den Stadttoren Berns herrschte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein äusserst reges musikalisches Leben. Schauplatz dieses aktiven Musikgeschehens war das in Konolfingen gelegene Schloss Hünigen. Werke von international angesagten Komponisten wie Anton Filtz, Christian Cannabich, Georg Christoph Wagenseil, Joseph Hayden, Christoph Willibald Gluck oder Guiseppe Tartini waren Teil der umfangreichen Musikaliensammlung des Emmentaler Schlosses, das sich seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Berner Patrizierfamilie von May befand und die 1922 in den Bestand der Burgerbibliothek überging. Besonders die Musik aus dem deutschen Sprachraum war sehr beliebt. Neben Vertretern der Mannheimer Schule fanden auch die Werke von Komponisten aus Österreich und Italien Aufnahme in die Sammlung der Patrizier. Der zeitlebens in holländischen Diensten stehende Berner Gabriel Emanuel von May zeichnete sich wohl für die facettenreiche Musikbibliothek des Schlosses verantwortlich. Indem die von Mays von überall her Musikalien kopieren liessen und höchstwahrscheinlich zugleich in den Metropolen Europas erschienene Musikdrucke kauften, verfügten sie jederzeit über die aktuellste Musik. So erklangen in dem schönen Saal im ersten Stock des Schlosses, der als Konzertsaal gedient haben dürfte, Werke von Komponisten, die nur in den seltensten Fällen jemals eidgenössischen Boden betreten hatten.
Nicht nur das Musikrepertoire, sondern auch Gabriel Emanuel, seine Gäste sowie die teilweise an den Höfen engagierten Musiker verliehen dem Schloss im Emmental ein internationales Ambiente. Wie die Konzerte im Schloss ausgesehen haben, darüber gibt das von Karl Friedrich von Steiger verfasste «Inventarium aller meiner Schriften und Musicalien» Auskunft. In diesem listet der Berner Patrizier, der ebenso wie der Konolfinger Hausherr in holländischen Diensten stand, die in seinem Besitz stehenden Symphonien, Konzerte, Trios, Quartette, Quintette sowie die Vokalmusik auf. Neben den bereits genannten renommierten Komponisten nennt von Steiger auch Namen wie Giovanni Battista Pergolesi, Carl Philipp Stamitz, Luigi Boccherini, Ignaz Josef Pleyel, Wolfgang Amadeus Mozart, Louis-Nicolas Clérambault und Jean-Baptiste Bréval. Sehr wahrscheinlich verfügte auch die Bibliothek des Schlosses Hünigen ursprünglich über Vertonungen all dieser Komponisten sowie über Vokalmusik und Musikdrucke. Ein Teil der heute aus 56 Werken bestehenden Musikbibliothek muss allerdings verloren gegangen sein. So ist die Vokalmusik mit nur einer einzigen Komposition vertreten und es fehlen zu den Handschriften die Musikdrucke. Höchstwahrscheinlich wurden sowohl die Musikdrucke als auch die Vokalmusik veräussert, bevor sie in den Bestand der Burgerbibliothek übergehen konnten.
An den musikalischen Darbietungen der Berner Patrizier beteiligten sich zum einen Dilettanten, deren musikalisches Niveau teilweise sehr hoch war und die durchwegs der Oberschicht angehörten, zum anderen lokale Berufsmusiker oder Virtuosen auf der Durchreise. Der bekannteste ihrer Vertreter war Wolfgang Amadeus Mozart. Als der erst zehnjährige Mozart im Jahr 1766 durch die Schweiz reiste, stellte er nicht nur in Genf, Lausanne und Zürich sein musikalisches Können unter Beweis, sondern vermutlich auch in der heutigen Bundeshauptstadt. Einzelne der internationalen Musiker, die das musikalische Leben Berns Ende des 18. Jahrhunderts bereicherten, wurden gar von Patriziern logiert. Die Berner Oberschicht als Publikum besuchte nicht nur regelmässig Konzerte, sondern sie organisierte in ihren Stadt- und Herrenhäusern auch selbst gesellschaftliche Anlässe mit musikalischen Darbietungen. Dabei fand das Notenmaterial der von Mays ebenso in den Stadthäusern Berns Verwendung. Noch heute liegen Kompositionen von Carl Stamitz in der Bibliothek der Hochschule der Künste, auf deren Titelblatt die Bezeichnung «May» steht. Auch von weiter her kamen Gäste nach Bern, um das facettenreiche musikalische Geschehen mitzuerleben. Die Konzerte der Berner Oberschicht stellten dabei gesellschaftliche Anlässe dar, an denen neben den Musikdarbietungen auch ausgiebigen Konversationen zwischen den Gästen von nah und fern gefrönt wurde. Ein regelmässiger Besucher solcher Konzerte war beispielsweise der gebürtige Pariser Louis-Joseph Lalive dˈEpinay, der sich 1775 in Freiburg niederliess und der ein guter Freund von Steigers gewesen war.