«Ich war froh, als ich das Waisenhaus verlassen durfte»
Dora Dill-Müller (69) lebte von 1962 bis 1966 im Burgerlichen Waisenhaus
TEXT: BARBARA SPYCHER; BILD: JONATHAN LIECHTI
Als ich mit elf Jahren ins Waisenhaus kam, war das ein Kulturschock. Zuvor hatte ich in einer Grossfamilie gelebt: Mit meinen Eltern und meinem Bruder hatten wir gleich neben den Grosseltern und der Familie meines Onkels gewohnt und waren unkompliziert hier und dort ein und aus gegangen, in einer freien und liebevollen Atmosphäre. Als meine Mutter starb und ich ins Waisenhaus kam, trat ich in ein streng getaktetes System ohne Zärtlichkeit ein. Das Leben wurde von der Glocke bestimmt, die zum Aufstehen, zum Waschen, zum Essen, zur Aufgabenstunde klingelte. Es gab keine Berührungen, keine Wärme, keine Zuneigung mehr. Unsere Gruppenleiterin war korrekt – mehr nicht. Für mich fühlte es sich an, als hätte ich plötzlich keinen Körper mehr.
«eine fremde Welt», aber auch mit Schönem
Ich hatte auch den Eindruck, dass wir Mädchen viel strengere Regeln zu befolgen hatten als die Buben. Abends um acht mussten wir zum Beispiel bei geschlossenen Fensterläden im Bett liegen, während die Jungs noch draussen Fussball spielen durften. Mein Bruder, der ebenfalls im Waisenhaus wohnte, spielte mit anderen Jungs in einer Band. Wir hätten uns gar nicht erst zu fragen getraut, ob wir auch eine Band gründen dürften. Uns wurde implizit vermittelt, dass man auf uns Mädchen besonders aufpassen muss. Es waren halt die frühen 60er-Jahre, als Frauen brav, unauffällig und zurückhaltend zu sein hatten. Die Buben konnten sich freier und kreativer bewegen. Ich habe nicht direkt gelitten, aber es war eine absolut fremde Welt für mich. Eine Welt, in der es durchaus auch Schönes gab: Das Essen zum Beispiel war richtig gut. Die Köchin hat sorgfältig und abwechslungsreich gekocht.
Es gab auch tolle Freizeitbeschäftigungen. Die Kämpfe um den grossen Lastwagenpneu im Schwimmbad machten Spass! Auch die Tanzkurse, die das tanzbegeisterte Leiterpaar Wissler organisierte, waren sagenhaft. Wir lernten alles, von Walzer über Cha-Cha-Cha bis Sirtaki, und das in einer lustigen und anregenden Atmosphäre. So richtig auf ihre Kosten kam meine Abenteuerseele, wenn Pfarrer Wissler, ein leidenschaftlicher Pfadfinder, ab und zu einen Ausflug fürs ganze Haus organisierte: Wir campierten am Fluss, machten ein Feuer und kochten in einer grossen Pfadipfanne Tee.
Kontakte werden heute noch gepflegt
Etwas, was ich im Waisenhaus gelernt habe, ist eine enorme Strukturiertheit. Ich war eher ein chaotisches und wildes Kind, doch das Waisenhaus hat mich Disziplin und Ordnung gelehrt. Das kam mir in meinem ganzen Berufsleben zugute. Ich wurde eine sehr strukturierte, zuverlässige und verantwortungsbewusste Erwachsene. Als Fünfzehnjährige musste ich das Waisenhaus verlassen, weil es für Mädchen keine nachschulische Betreuung gab. Ich war sehr froh darüber! Ich hatte die Zeit im Heim abgesessen, hatte funktioniert, um meinem Vater nach dem Tod meiner Mutter nicht noch mehr Probleme zu machen.
Danach hatte ich das Glück, bei meinen Grosseltern wohnen zu können, bis ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte. Von meinem Vater und meinem Bruder habe ich mich mit dem Eintritt ins Waisenhaus entfremdet. Ich war zwar gleichzeitig mit meinem Bruder im Waisenhaus, doch Buben und Mädchen waren streng getrennt. Wir hatten höchstens mal Blickkontakt. So sind mein Vater, mein Bruder und ich nach dem Tod meiner Mutter individuelle Wege gegangen, die sich nie mehr richtig angenähert haben. Mit ein paar wenigen ehemaligen BWH-Gspänli tausche ich mich heute noch aus. Meine ehemalige Heim- und Schulkollegin Esther habe ich vorletzten Sommer in England besucht und eine richtig schöne Zeit mit ihr verbracht. Diese Kontakte sind mir wichtig und werde ich weiterhin pflegen, auch wenn es den Ehemaligenverein nicht mehr gibt.