«Es hat eine Wirkung, wie man einen Menschen sieht»
Amir Gharatchedaghi (65) wohnte von 1966 bis 1968 im Burgerlichen Waisenhaus und arbeitete von 1994 bis 2001 als sozialpädagogischer Mitarbeiter im Burgerlichen Jugendwohnheim.
TEXT: BARBARA SPYCHER; BILD: JONATHAN LIECHTI
Meine Eltern waren mit mir und meiner Schwester aus dem Iran nach Karlsruhe gezogen, weiter nach München, dann trennten sie sich, und meine Schwester, ich und meine Mutter kamen nach Bern. Wegen der Trennung und der Migration hatten meine Schwester und ich vor dem Waiseler schon temporär in vier Heimen gelebt. Das Burgerliche Waisenhaus war für mich als Elfjähriger die erste Institution, in der ich gute Erfahrungen machte. Ich fand dort Sicherheit, Geborgenheit, etwas Konstantes, ein Gefühl von Zugehörigkeit. Das war für mich mit instabilem Zuhause viel wert. Wir lebten mal im Heim, mal zu Hause bei meiner Mutter.
Es war eine unbeständige Zeit. Wenn ich jeweils nach einem Wochenende bei meiner Mutter am Sonntagabend wieder in den Waiseler zurückkam, erzeugte der Weltenwechsel oft Trauer und Melancholie. Gleichzeitig konnten mir das Burgerliche Waisenhaus, Herr Wissler und die damalige pädagogische Mitarbeiterin auf der Wohngruppe etwas Beständiges vermitteln. Ich fühlte mich ernst und als Individuum wahrgenommen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Der Waiseler war seiner Zeit in Sachen Pädagogik voraus. Herr Wissler lebte ein konstruktives Männerbild vor: Bei aller Strenge war sein Verhalten doch nachvollziehbar und gerecht, nicht grob, bestrafend und verletzend, wie ich das in anderen Institutionen erfahren hatte.
Vertrauen war etwas Wichtiges, das mir der Waiseler mitgab auf meinen weiteren Weg. Das hat mich auch unterstützt, später meinen beruflichen Weg zu gehen. Ich liess mich zum Glaskünstler, später zum Mal- und Gestaltungspädagogen ausbilden. Weil es schwierig war, davon zu leben, nahm ich immer mal wieder Teilzeitjobs im sozialen Bereich an. Als 1993 die Anfrage vom Burgerlichen Jugendwohnheim kam, in der Nacht und am Wochenende in der Betreuung auszuhelfen, sagte ich gerne zu. Mittlerweile war die Leitung an Fritz und Romy Kläy übergegangen, doch die Betriebskultur, die ich im Haus antraf, war noch dieselbe. Ich konnte wieder Wärme, Respekt und Wertschätzung wahrnehmen. Ich war auf der Gruppe Kaktus tätig und begleitete dort Jugendliche in der Adoleszenz. Es war eine vielseitige und sinnvolle Tätigkeit.
Nebst den üblichen Betreuungsaufgaben malte ich auch mit den Jugendlichen und bot ihnen Karatestunden an. Ich schätzte den Freiraum, den mir Kläys gewährten. Die Arbeit hatte aber auch ihre traurige Seite. Es gab Jugendliche, die ihren Weg trotz etlicher Bemühungen verschiedenster Personen nicht fanden. Auf der anderen Seite kam es vor, dass mir Jahre später in der Stadt irgendein grossgewachsener Typ entgegenkam und mich mit den Worten ansprach: «Tschou Amir, kennst du mich noch?» Ich realisierte dann: Das war einer der Jugendlichen, die ich im Jugendwohnheim begleitet hatte. Sie gaben mir bei diesen Begegnungen das Gefühl: «Ich freue mich sehr, dich zu sehen – du hast mich damals gesehen und wirklich unterstützt.» Solche Erlebnisse sind schön und geben dem eigenen Engagement Sinn.