Ein Stück Biodiversität zum Espresso
TEXT: MARTIN GRASSL UND ANINA KISTLER; BILD: MARTIN GRASSL
Mit dem Umbau des Bibliotheksgebäudes an der Münstergasse 61+63 wurde auch der in den 60er- und 70er-Jahren angelegte, neobarocke Park samt Brunnen im Hof auf der Gebäuderückseite zum Casino hin umgestaltet. Auf seiner Fläche wurde eine Terrasse angelegt, die im Zentrum von einer Dreierreihe von 27 konkaven, kniehohen Oberlichtern geprägt ist, die den neu errichteten Lesesaal darunter mit Tageslicht versorgen. Die rund einen Meter breiten Zwischenräume zwischen den Oberlichtern wurden aber nicht einfach brach belassen, sondern mit rund 20 verschiedenen Blumenarten sowie anderen Pflanzen begrünt, die von einer Bewässerungsvorrichtung gespiesen werden. Zwischen den Oberlichtern findet sich daher auf einem Streifen auch ein Bereich mit zutage tretendem Wasser, über den sich Insekten wie auch Vögel besonders freuen.
Gemäss des ausführenden Landschaftsarchitekten David Bosshard war bei der Planung des Gartens die Einbettung der Oberlichter in eine bunte Wiese ein zentrales Anliegen. Wo früher Buchsbüsche und eine grüne Rasenfläche den Innenhof prägten, sorgen jetzt Eisenhut, Blutweiderich, Kugellauch und zahlreiche weitere Pflanzen für hübsche Farbtupfer auf Hüfthöhe. Die korrodierten, rostfarbenen Seitenwände der Oberlichter aus Metall harmonieren wunderbar mit der bunten Bepflanzung aus mediterranen, wärmeliebenden Blütenstauden und Gräsern. Aufmerksamen Gästen des Gartens fällt auf, dass durch die gelungene Komposition zwischen Architektur und Natur auch der Himmel auf die Wiese «geholt» wurde. Er spiegelt sich nämlich in den Glasscheiben der Oberlichter in zarten, himmelblauen Tönen. Auf der bestuhlten Kiesfläche der «Café Lounge Lesbar» ringsum stehen Pflanzenkübel im französischen Stil, sogenannte «Caisses de Versailles», die unter anderem mit Glyzinien, Kirschlorbeer und Storchschnabel bepflanzt sind. In dieser Idylle schmeckt der Espresso der Lesbar somit herrlich nach Entspannung und Erholung.
Welchen Nutzen haben grüne Nischen im urbanen Raum?
Aber stellt die solcherart begrünte Terrasse auch einen Trittstein für städtische Biodiversität dar? Hierzu befragt, äussern sich Insektenforscher Hannes Baur sowie Vogelforscher Manuel Schweizer, die beide am Naturhistorischen Museum Bern wissenschaftlich tätig sind. Hannes Bauer lobt: «Solche Flächen sind aus didaktischen Gründen sehr gut geeignet: Je nach Standort kommt die Bevölkerung dadurch mit vielerlei Insekten in Kontakt, welche sonst unbeachtet bleiben. Dies kann das Verständnis für und den Bezug zu diesen Lebewesen stärken.» Vogelforscher Manuel Schweizer ergänzt: «Derartige Kleinstrukturen sind als Lebensraum vor allem für Wirbellose attraktiv. Diese dienen wiederum Vögeln insbesondere während der Brutzeit als wertvolle Nahrung, denn Nestlinge benötigen Proteine, also haben sie auch einen indirekten Wert für Vögel. Als Nistplätze haben sie aber kaum Bedeutung.» Hannes Baur gibt grundsätzlich zu bedenken: «Auch wenn solche Kleinstrukturen für Wirbellose natürlich attraktiv sind, ist ihr Wert gesamthaft jedoch umstritten, da derartige Flächen die Verluste an Insektendiversität in den offenen Naturräumen wohl kaum kompensieren können. Hier bestehen also grosse Fragezeichen. Insekten sind nämlich auf grössere, zusammenhängende Gebiete angewiesen. Die Fragmentierung ihrer Lebensräume führt dagegen oft zu einer genetischen Verarmung innerhalb von Teilpopulationen, was sich negativ auf den gesamten Bestand auswirken kann.»
In Anbetracht der aktuell grossen Problematik des Artensterbens sind derartige Grünflächen im urbanen Raum lediglich ein Tropfen auf den heissen Stein, da die Artenvielfalt insbesondere infolge der intensiven Landwirtschaftsnutzung und der gespritzten Flächen auf dem Land unter grossem Druck steht. Dennoch stellt die Begrünung der Bibliotheksterrasse eine löbliche Initiative dar, weil sie die Besuchenden für die Natur sensibilisieren kann.