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Ein Gespenst geht um in Berlin: die Mode

Brief von (Wilhelm Aimé) Otto von Greyerz (1829–1882) an Gottlieb von Greyerz (1778-1855)

27.09.2023

Er wolle «lieber ein Narr in der Mode, als ein Narr ausser der Mode […] sein». Dies bemerkte 1853 (Wilhelm Aimé) Otto von Greyerz (1829–1882) einen griechischen Philosophen zitierend in einem Brief an seinen Vater. Anlass zu dieser Aussage gab die Anschaffung eines Fracks, die der junge Berner kurz nach seiner Ankunft in Berlin in einer «Künstlerwerkstätte einer hiesigen Bekleidungsakademie» getätigt hatte.

TEXT: NADJA ACKERMANN; BILD: BURGRBIBLIOTHEK

Damit sich die Familie daheim im Breitenrain ein besseres Bild von diesem Kleidungsstück machen konnte, illustrierte Otto seinen Brief mit einer kleinen Tuschzeichnung, wobei er hoffte, «dass diese Skizze einiges Zeugniss (sic!) für (s)eine bisher gepflogenen Kunststudien ablege». Eigentlich besuchte der junge Mann in Berlin Theologievorlesungen, denn nach seiner Rückkehr nach Bern würde er zuerst das Vikariat in Thunstetten und ab 1856 bis zu seinem Tod die Pfarrstelle an der Heiliggeistkirche besetzen.

Während der junge Otto in Berlin die Morgenstunden dem Studium widmete, galt es am Nachmittag soziale Verpflichtungen einzulösen, sprich in den verschiedenen Berliner Gesellschaften, für die er Empfehlungsschreiben erhalten hatte, Mittag zu essen und Kaffee zu trinken. Nach einigen dieser Besuche hatte Otto einsehen müssen, dass ihm für ein wohlgefälliges Auftreten ein Frack, der ab Mitte des 19. Jh. aus schwarzem Tuch gefertigt wurde, unentbehrlich war. Also tauschte Otto seinen geliebten Rock, für den er schon sonderbare Blicke geerntet hatte, ein. «Kurz, ich mag gar nicht länger davon reden, wie mich dieses Gespenst, Mode genannt, schon zu seinem Sklaven gemacht hat», klagte Otto später. Den eigentlich den Frack komplementierenden Vatermörder, heisst, den steifen, vorne offenen, hohen Stehkragen des Herrenoberhemdes, weigerte sich Otto aber anzuziehen.

Überhaupt war Otto das soziale networking, das ebenso Sinn und Zweck einer Bildungsreise war wie das eigentliche Studium, überaus lästig. «Molly (seine ältere Schwester), mag sich an meiner Metamorphose freuen & erwarten, dass ich als qualifizierter Salon-Lümmel wieder in die unkultivierte Schweiz zurückkomme», bemerkte er ironisch. Die Berliner Atmosphäre sei kühl und gekünstelt, die Gespräche oberflächlich. Ottos briefliches Lamento war teils so laut, dass ihn sein Vater respektive – wie Otto ihn nannte – der «Briefpatriarch» beschwichtigte, diese Besuche hätten sehr wohl einen Zweck, sei es auch nur jener, Otto in seinen sozialen Fähigkeiten zu perfektionieren. Diesem Argument konnte Otto nur halbwegs zustimmen: «Ich stecke mich nun zwar obligater Weise bisweilen in Frack und Glacéhandschuhe (schrecklich genug) aber ich muss aufrichtig sagen, dass ich selten Gelegenheit find, jene unmittelbare ‘Höflichkeit des Herzens’ (…) so auszuüben, dass ich nicht missverstanden werde».

Überhaupt wurde der Berner mit dem «preussischen Paris» nicht warm. Seine Briefe, die Otto rund alle drei Wochen nach Bern sandte und die im Familienarchiv von Greyerz in der Burgerbibliothek Bern aufbewahrt werden, sind gespickt mit Nörgeleien: Die Temperaturen seien eisig, das Frühstück «bestehend aus Dünnkaffee, Brod und gesalzner Butter» karg und die Mittagessen würden erst gegen 14 Uhr eingenommen, so spät, dass er noch um 11 Uhr ein Butterbrot verzehren müsse, um durchzuhalten. Natürlich sind Ottos Briefe wie alle Selbstzeugnisse auch als Bühne einer (un-)bewussten Selbstinszenierung zu lesen. So dürften die Briefinhalte nicht zuletzt den Zweck gehabt haben, sich vor dem väterlichen Leser als musterhaften, ökonomisch agierenden Sohn zu positionieren.

Diesen Einfärbungen zum Trotz eröffnen Ottos Briefe interessante Einblicke ins Studentenleben Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie enthalten unter anderem Informationen über die Art des Reisens, über die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer passablen Unterkunft, über hohe Lebensunterhaltskosten, über Armut in einer Grossstadt sowie über Tücken des preussischen Postverkehrs. Darüber hinaus legen die Briefinhalte nahe, dass die internen Standesunterschiede im Berner Patriziat im Ausland aufrechterhalten wurden: «Vielleicht kommt Erlach noch & Wattenwyl, aber ich weiss nicht, ob die Herren mir nicht zu vornehm sind», schrieb Otto nach Bern. Auf die Ankunft seines Freundes, des späteren Malers Albert Anker (1831–1910), hoffte Otto vergebens: Anker hatte sich für Halle entschieden.

Schliesslich geben Ottos Schreiben Aufschluss über die von ihm besuchten Sehenswürdigkeiten in Berlin. So hörte er trotz der hohen Eintrittspreise im Theater den «schwedischen Nachtigall» Jenny Lind (1820–1887). Und im Tierpark hatte Otto ein Wildschwein besonders amüsiert. Dieses fühlte sich durch menschliches Lachen provoziert und begann bei diesem Laut jeweils ganz wild durch das Gehege zu rennen. Leider hatte Otto dieses arme Tier in seinem Brief nicht bildlich festgehalten. Überhaupt sind Skizzen in seinen Briefen eher rar, doch wenn vorhanden, sind sie materielle Spuren dafür, dass im 19. Jahrhundert der Zeichenunterricht fester Bestandteil einer bürgerlichen Ausbildung war. Auch Ottos Sohn, der Germanist und Mundartschriftsteller Otto von Greyerz (1863–1940) wird sich als begabter Skizzierer erweisen. Diese kleinen, aber doch meist verblüffend feinen Zeichnungen fungierten als Textillustrationen in einer Zeit, in der ein neues Medium noch in den Kinderschuhen steckte und folglich im Gegensatz zu heute für solch flüchtige Darstellungen noch zu teuer war: die Fotografie.

Familienarchiv von Greyerz in der Burgerbibliothek Bern

Bild Legende:
Fotoporträt von (Wilhelm Aimé) Otto von Greyerz (1829–1882)

Weitere Briefe von Otto von Greyerz im Familienarchiv von Greyerz im Archivkatalog der Burgerbibliothek Bern entdecken

abgelegt unter: Bildung, Burgerbibliothek, Kultur

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