Die Peripherie ins Zentrum bringen
Johny Pitts
TEXT: ANNELI REINHARD; BILD: JAMIE STOKER
Johny Pitts, Sie sind im Frühjahr 2024 Gastprofessor für Weltliteratur in Bern. Was hat Sie motiviert, die Einladung der Universität anzunehmen?
Jedes Jahr liste ich die Sachen auf, die ich gerne ausprobieren oder realisieren möchte. Dazu gehört immer auch das etwas vage Vorhaben, meine Komfortzone auf die eine oder andere Weise zu verlassen. Die Einladung der Universität Bern hat mir einfach genug Angst gemacht! (lacht)
Die Dürrenmatt Gastprofessur hat zum Ziel, Theorie und Praxis im akademischen Kontext zu verbinden. Wie schätzen Sie diesen Ansatz ein?
Es ist eine Riesenchance! Für mich bietet die Lehrveranstaltung die Gelegenheit, Welten in die Institution einzubringen, die sonst aussen vor bleiben. Es wurde mir der Raum geschenkt, den Studierenden Kunstwerke und Kommunikationsformen zu vermitteln, die in den meisten akademischen Lehrplänen nicht enthalten sind. Ich möchte die kulturelle Peripherie sozusagen in den Mittelpunkt bringen und dazu ermuntern, Schönheit und Kultur an unerwarteten Orten zu erkennen. Gleichzeitig war es für mich eine willkommene Herausforderung, meine Ideen für den formellen Rahmen eines Seminars auf den Punkt bringen zu müssen.
Wie haben Sie die Lehrveranstaltung also konzipiert?
Ich wollte auf keinen Fall zu didaktisch klingen, daher habe ich mich von einer westafrikanischen Tradition inspirieren lassen, die auf Wiederholung beruht: Man kommt immer wieder zu den gleichen Ideen zurück und fügt jedes Mal Elemente hinzu. Nach und nach wird ein tiefes Verständnis des Themas aufgebaut. Ich konnte auf diese Weise die einzelnen Sitzungen flexibel gestalten und besser auf Inputs der Studierenden eingehen. Ausserdem konnte ich einige meiner Erfahrungen in Bern einbeziehen, die ich unmöglich im Voraus hätte planen können.
Sie sind Essayist, Fotograf, Musiker und Journalist. Wie vereinbaren Sie die Gastprofessur mit Ihren anderen Aktivitäten?
Die Universität Bern hat mich aufgrund meines bisherigen Werks eingeladen, aber ich durfte das Seminar auf die Arbeit beziehen, die mich aktuell beschäftigt. Dafür bin ich sehr dankbar. So konnte ich die Themen, die mich interessieren, in das Seminar einfliessen lassen und meine Ideen anhand der Fragen und Feedbacks der Studierenden weiterentwickeln. Dank dieser Wechselwirkung wird meine Zeit in Bern eine sehr produktive gewesen sein, denke ich.
Ihr Seminar zeichnet sich durch seine kreative Form aus: Sie beziehen Musik, Kultfilme und sogar Performance ein. Was vermitteln Sie durch diese hybride Gestaltung?
Wegen der Performance habe ich mir am meisten Sorgen gemacht! (lacht) Ich habe befürchtet, ich würde in einem akademischen Rahmen nie ernst genommen, wenn ich dieses komplexe, rhythmische Gedicht vorführen würde. Aber gerade dazu habe ich am meisten Feedbacks von Studierenden erhalten, die es inspirierend fanden. Das ist genau, was ich vermitteln will: Wenn man diese «furchtbare Idee» hat, die einen jedoch nicht loslässt, dann sollte man sich trauen, sie zu entfalten. Auch wenn man sich hierzu an den Grenzen des Akzeptablen bewegen muss.
In Ihrem Seminar geht es auch darum, die Studierenden zu ermutigen, die «B-Seite» ihrer eigenen Kultur zu erkunden. Wo sollte man beginnen?
Die Schriftstellerin Dorothea Brande schrieb, man solle mit fremdem Blick auf die eigene Strasse schauen («turn yourself into a stranger on your own streets»). Ich glaube, die eigene Biografie ist der beste Ausgangspunkt, um neue Dinge zu sehen. Vieles von dem, was wir als normal betrachten, ist gar nicht selbstverständlich. Aber um dies zu erkennen, muss man sich distanzieren und sich wirklich umschauen. Nach einer Weile beginnt man, Sachen zu erkennen, die man zuvor nie bemerkt hatte.
Sie besuchten Bern zum ersten Mal vor über dreizehn Jahren. Welchen Blick werfen Sie heute auf die Stadt?
Während der Reise, aus der mein Buch «Afropäisch» entstand, verbrachte ich zwei Nächte hier. Bern wird im Buch zwar nicht genannt, hat aber einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Inzwischen habe ich diese Idee der kulturellen «B-Seite» entwickelt und finde es spannend, aus dieser Perspektive auf die Stadt zu blicken. Mich interessieren nämlich die Risse und Sprünge unter ihrer ruhigen und friedlichen Oberfläche.
Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur |
Von der palästinensischen Schriftstellerin Adania Shibli über Schweizer Persönlichkeiten wie Lukas Bärfuss bis hin zum kubanischen Filmemacher Fernando Pérez: Im Rahmen der Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur wird seit 2014 in jedem Semester ein Autor oder eine Autorin eingeladen, um ein Seminar an der Universität Bern zu geben. Das Projekt wird von der Burgergemeinde unterstützt und hat zum Ziel, künstlerische Praxis in den theoretischen akademischen Rahmen einzubringen. Mit den verschiedenen Gästen rücken neue Perspektiven, kreative Formen und aktuelle Inhalte ins Licht. Neben der regulären Veranstaltung an der Universität Bern werden während des Semesters öffentliche Lesungen organisiert. |