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Auswirkungen von Corona auf die Jugendlichen in Bern

18.08.2021

Corona führte zur Priorisierung des Schutzes älterer Menschen als vulnerable Risikogruppe. Dabei ging beinahe vergessen, dass für Kinder und Jugendliche die Umstellung auf Homeschooling und die Kontaktverbote untereinander teils schwer auf ihre Seelen drückte. toj betreibt in der Stadt Bern im Rahmen eines städtischen Leistungsvertrags an sechs Standorten Angebote für Jugendliche, die bei ihnen äusserst beliebt sind. Das Medaillon wollte von Evelyne Grieb, Teamleiterin des toj Standorts Gotenstrasse im Westen Bern, wissen, was Corona bislang für die Jugendlichen für Konsequenzen nach sich gezogen hat.

Bild Legende:

TEXT: MARTIN GRASSL; BILDER: ZVG/TOJ

MEDAILLON: Wie viele Jugendliche frequentierten vor Corona die Angebote des toj? Und wie viele insbesondere im Westen Berns?
EVELYNE GRIEB: Wir zählen jede Kontaktaufnahme der Jugendlichen mit uns, alle Standorte zusammengerechnet verzeichneten wir 2019 über 35'500 Kontaktaufnahmen pro Jahr. Am Standort Gotenstrasse im Westen Berns entspricht dies zurzeit beispielsweise 50 Jugendlichen, die wir hier wöchentlich betreuen. Wegen Corona gingen die Zahlen 2020 allerdings wesentlich zurück. Wir konnten lediglich 24'750 Kontaktaufnahmen zählen, was ganz klar eine Folge der Pandemie und der verordneten Schutzmassnahmen war. 

Welche Angebote des toj werden von den Jugendlichen vor allem nachgefragt?
Hier im Westen nimmt vor allem die Hilfe bei der Lehrstellensuche einen Grossteil unserer Arbeit in Anspruch. Aber auch schulischer Nachhilfeunterricht ist ein Thema. Dennoch kommen die Freizeitgestaltung und der Treffpunktcharakter bei uns nicht zu kurz. An den anderen Standorten des toj in der Stadtmitte und im Nordosten stehen diese Angebote dagegen im Vordergrund, da die Jugendlichen dort in schulischen Belangen besser selbst zurechtkommen. Um bei uns Kollisionen zwischen dem lauten Freizeitbetrieb und dem schulischen Supportangebot «Infothek» zu vermeiden, bieten wir letzteres während dafür vorgesehenen Zeitfenstern an. Für das Angebot «Infothek» stellen wir den Jugendlichen nötige Infrastruktur wie Laptops, einen guten Drucker sowie Telefone zur Verfügung.

Welche Lücke füllt toj in Berns Westen? Müssen die Jugendlichen hier besonders betreut werden?
Hier im Westen Berns ist die Arbeitslosen- und Sozialhilfequote erhöht, und viele Jugendliche sind schulisch benachteiligt. Sie sind daher mehr als in anderen Stadtgebieten auf Wissen von Erwachsenen ausserhalb ihrer Familien angewiesen. Sie haben insgesamt nicht einen ähnlich guten Start wie andernorts, entsprechend ist das Niveau ihrer Schulbildung geringer, Realschülerinnen und -schüler sind in der Mehrzahl. Ihr Ziel ist, überhaupt schon nur eine Ausbildung erhalten zu können, weshalb unsere Support-Angebote hier besonders nachgefragt werden. Aber auch ihre Freizeitbedürfnisse sind anders gelagert. An unseren anderen Standorten stehen Freizeitangebote eher im Vordergrund, beispielsweise das Sprayen im Treff «Graffiti».  Doch Spraydosen sind den Jugendlichen hier zu teuer. Dafür kommen bei uns Ausflüge in andere Stadtteile oder etwa der Besuch der Trampolinhalle in Belp besonders gut an. Denn eine hiesige Familie mit beispielsweise vier Kindern könnte sich einen solchen Besuch finanziell nicht leisten. Auf unsere Ausflüge kommen daher regelmässig über 20 Jugendliche mit. Daneben ist der gemeinsame Kochabend, jeweils am Freitag hier im Treff, ein Renner.

Ab welchem Alter und während welcher Zeitspanne besuchen die einzelnen Jugendlichen jeweils das toj?
Die Mädchen kommen grundsätzlich früher zu uns als die Knaben. Die Mädchen zwischen dem 6. und 7. Schuljahr, die Knaben zwischen der 8. und 9. Klasse. Übrigens betreiben wir hier im Westen mit dem Modi*hus Bienzguet ein Haus ausschliesslich für Mädchen. Grundsätzlich besuchen die Jugendlichen das toj im Einzelnen während rund zwei bis drei Jahren, oder punktuell immer wieder im Rahmen des Angebots «Infothek».

Corona bedeutete für die Jugendlichen einen grossen Einschnitt. Man konnte lesen, dass viele frustriert waren, weil sie ihre Generation als nicht mehr gehört empfanden. Inwiefern fühlten sich die Jugendlichen denn konkret nicht mehr gehört?
Viele empfanden sich ihrer besten Jahre beraubt, weil sie plötzlich nichts mehr wie bis anhin unternehmen konnten. Das Gefühl, das Leben zu verpassen, war weit verbreitet. Weiter kamen verstärkte Zukunftsängste hinzu. Der Lehrstellenmarkt war mit einem Mal ausgetrocknet, auch Schnuppern war weitgehend nicht mehr möglich. Plötzlich waren die älteren Risikogruppen prioritär, während die Jugendlichen beinahe ins Hintertreffen gerieten. Unter ihnen ging das Gefühl um, von den Erwachsenen vergessen worden zu sein. Dazu kam der Druck in den Medien, welche Kinder und Jugendliche als Treiber der Pandemie stigmatisierten. In einer solchen Situation keine adäquate, ebenbürtige Stimme zu besitzen, um Stellung beziehen zu können, hat viele Jugendliche sehr frustriert.

Wie steht es heute um die jungen Menschen in Bern?
Corona ist zurzeit nicht mehr das grosse Thema. Dank der gelockerten Bestimmungen ist für die Jugendlichen wieder mehr möglich, beispielsweise gemeinsame Freizeitaktivitäten zu betreiben, auf die sie zuvor hatten verzichten müssen. Die Lockerungen hatten auch die nicht zu unterschätzende Konsequenz, dass viele von ihnen wieder die Sommerferien in ihren Herkunftsländern wie etwa Nordmazedonien, Türkei oder Kosovo haben verbringen können, was letztes Jahr wegen der strengen Quarantänebestimmungen nach der Rückkehr aus betreffenden Gebieten nicht möglich war. Trotzdem bleibt die Lehrstellensuche gerade 2021 harzig. Denn viele Firmen haben im Zuge von Homeoffice auch das Bewerbungsprozedere digitalisiert. Diese neue Form der Auslese stellt besonders für die weniger technikaffinen Jugendlichen im Westen Berns eine zusätzliche Hürde dar.

Hat Corona neue Bedürfnisse zur Folge und welche?
Das Bedürfnis, sich mit Gleichaltrigen zu treffen, hat deutlich zugenommen. Dadurch nutzen die Jugendlichen vermehrt den öffentlichen Raum, wodurch sie entsprechend mehr wahrgenommen werden als früher. Dies führt aber dazu, dass sie sich wiederum geradezu beobachtet und stigmatisiert fühlen als diejenigen, von denen behauptet wird, das Virus zu verbreiten. Vor diesem Hintergrund haben Themen wie psychische Gesundheit und Befindlichkeit für sie neu an Bedeutung gewonnen.

Welches sind für das toj weitere Auswirkungen von Corona, die in der Betreuung bestehen bleiben?
Das Durchsetzen von Schutzmassnahmen gegen Corona bedeutet eine neue Aufgabe in unserer täglichen Arbeit. Die kontinuierliche Desinfektion unserer Treffs sowie die Abgabe von Gratismasken an die Jugendlichen stellen zudem einen neuen, zusätzlichen Kostenpunkt dar. Und, wir geben den Jugendlichen nicht mehr wie früher die Hand, was in unserer Betreuungsarbeit wichtig war, weil wir vor Corona auf diese Weise auch eine Beziehung zu ihnen haben herstellen können.

toj – Trägerverein für die offene Jugendarbeit der Stadt Bern

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