«1968 Schweiz»
TEXT: JAKOB MESSERLI, DIREKTOR BERNISCHES HISTORISCHES MUSEUM
Zum 50-jährigen Jubiläum von 1968 blickt das Bernische Historische Museum auf die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre zurück und widmet den damaligen Ereignissen und ihren Folgen unter dem Titel «1968 Schweiz» eine grosse Wechselausstellung. Der Widerstand gegen den Vietnamkrieg war zwar weltweit ein Anliegen der rebellierenden jungen Generation, diese verfolgte aber eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Ziele. Die Revolution jedoch gehörte nur für eine Minderheit dazu. Die Ausstellung konzentriert sich auf die Ereignisse und Entwicklungen in der Schweiz, wobei Bern prominent vertreten ist.
Prosperität und Enge
Die 1950er- und 1960er-Jahre sind in der Schweiz von einem eigentümlichen Gegensatz geprägt: Einerseits wächst die Wirtschaft kontinuierlich, die materiellen Lebensbedingungen verbessern sich für viele. Fortschritt und Wachstum heissen die Devisen, alles scheint machbar. Andererseits hat die «Geistige Landesverteidigung» den Krieg überdauert und prägt die Gesellschaft zusammen mit traditionellen Normen und Werten. Das Zusammenleben ohne Trauschein ist verboten, Homosexuelle werden polizeilich registriert, Männer mit langen Haaren in Restaurants nicht bedient, und Frauen haben keine politischen Rechte. Die Enge der Nachkriegszeit ist vielen unerträglich.
Aufbruch
Die 68er lehnen sich gegen diese Enge, gegen überkommene Autoritäten und überholte Werte auf und setzen sich für Selbstbestimmung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, soziale Gerechtigkeit und solidarisches Handeln ein. Sie tun dies mit unterschiedlichen Formen von Protest und Widerstand wie etwa Demonstrationen, Sit-ins, Strassentheater oder symbolischen Aktionen wie der erwähnten Hissung der Vietcong-Fahne auf dem Münsterturm. So verschieden die jeweiligen konkreten Anliegen auch sind, die Opposition gegenüber dem Bestehenden und dem Establishment eint die rebellische Generation.
Unterschiedliche Sichtweisen
Mit «1968 Schweiz» rückt das Bernische Historische Museum ein zeitgeschichtliches Thema in den Fokus, das im historischen Bewusstsein noch wenig gefestigt ist, und zu dem noch kaum eine nationale Erinnerungskultur existiert. Die Ausstellung gibt eine Überblick über die bewegten Jahre am Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er-Jahre und fragt, was heute in Politik, Kultur und Alltag auf diese Zeit zurückgeht: Hat die 68er-Bewegung die Schweiz linker gemacht oder ist 1968 gar die Geburtsstunde der neuen Rechten? Ist die heutige Schweiz demokratischer als vor fünfzig Jahren? Welche gesellschaftlichen Errungenschaften haben wir den 68ern zu verdanken und welche problematischen Aspekte gehen mit den damaligen Tabubrüchen einher? Hat der damals propagierte Individualismus heute auch seine Schattenseiten?
Zeitzeugen
Die Ausstellung «1968 Schweiz» lässt 16 Akteurinnen und Akteure von damals von ihrem 1968 erzählen. Und sie lässt sie kritisch zurückblicken. Für sie kommt die Deutung der Folgen von 1968 einer Lebensbilanz gleich: Was bleibt? Hat der Aufbruch die erhofften Folgen gebracht? Für sie persönlich? Für die Gesellschaft? Haben sich ihr Kampf, ihr Aufbegehren und ihr Engagement gelohnt?
Die Meinung der Besucherinnen und Besucher
Die bewegten Jahre um 1968 markieren gleichsam den letzten utopischen Moment in der jüngeren Schweizer Geschichte. Seither gab es keine (Jugend-)Bewegungen mehr, welche die Gesellschaft – die Politik, die Kultur, das alltägliche Verhalten – in ihren Grundfesten verändern wollten. Die Ausstellung befragt deshalb zum Schluss auch ihre Besucherinnen und Besucher: Braucht es heute keine Veränderung mehr? Und falls doch: Wofür würden Sie heute, 50 Jahre später, auf die Strasse gehen oder sich einsetzen?